Ankommen, aber dann weiterkommen!

Am 21.6. veranstaltete die Katholische Stiftungsfachhochschule München gemeinsam mit der Hochschule München einen Fachtag Praxis zum Thema Flucht in der Kinder- und Jugendarbeit.

Von Tina Teucher

Zur Begrüßung stellte Prof. Dr. Susanne Nothhaft von der KSFH einige Fakten zum Thema vor, darunter:

  • Jede Minute verlassen 24 Menschen auf der Welt ihr zu Hause, um sich auf die Flucht zu machen
  • Drei Viertel der ankommenden Jugendlichen in Deutschland sind männlich
  • Unter den Asylantragstellern sind über 120.000 begleitete Kinder – sie sind schwer zu erreichen von der Kinder- und Jugendhilfe


Prof. Gerd Stecklina von der Hochschule München stellte die Ergebnisse der Auftaktveranstaltung am 12. April 2016 vor:

  • Die Kinder- und Jugendhilfe steht vor immensen Herausforderungen im Hinblick auf die Anpassungen an die gesetzlichen, kommunalen und institutionellen Rahmenbedingungen (z.B. die Modifizierung der Angebotsstrukturen)
  • Es besteht ein Spannungsfeld zwischen Flüchtlingspolitik sowie Kinder- und Jugendhilfepolitik (Primat der Jugendhilfe)
  • Es besteht Unsicherheit im Umgang mit Kinderschutzfragen bei Migrationshintergrund


Bilsena Ibrahimovic von World Vision stellte die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Ankommen in Deutschland“ vor. Der Untertitel des Projekts „Wenn geflüchtete Kinder erzählen“ spiegelt den Anspruch der World Vision Kinderstudien, Kindern im Sinne des Artikels 12 der UN-Kinderrechtskonvention die Möglichkeit zu geben, ihre Meinung zu äußern und ihre Perspektiven zu verdeutlichen. Als wichtigste Dimensionen identifizierte die Studie:

  • Erinnerungen und Verluste
  • Familie und Freunde (Beziehungen und Begegnungen)
  • Bildung und Sprache
  • Sicherheit und Schutz
  • gesundheitliche, soziale und materielle Versorgung
  • Privatsphäre und Selbstbestimmung


Bei den qualitativen Interviews mit 10-13-jährigen aus den Ländern Afghanistan, Iran, Eritrea, Serbien, Syrien und Kosovo fällt besonders die Methodik positiv auf: Nach einem Kennenlern-Tag zwischen Interviewer und Kindern, der eine Vertrauensgrundlage schaffen sollte, wendeten die Forscher verschiedene Methoden an, um den Kindern das Erzählen zu erleichtern:

  • Bausteine, mit denen die Kinder ihr soziales und räumliches Netzwerk in 3D aufbauen können. Fragen wie „Wie nehmen sie ihre Umgebung / Heimat wahr?“ lassen sich so in lockerer, spielerischer Atmosphäre visualisieren. Die Konstellation ermöglicht zudem Anpassungen und lässt relevante Orte und Aktivitäten erkennen.
  • Life-Line-Methode: Anhand einer Schnur können die Kinder ihre Lebenslinie mit wichtigen Ereignissen vorstellen.
  • Memory-Spiel-Karten: Mit Blick auf die Motive beantworten die Kinder die Frage: Was wünschst Du Dir für eine gute Zukunft?


Zu den Kernergebnissen der Studie gehört:

  • Familie und Freunde sind den Kindern sehr wichtig. Sie haben Sehnsucht nach stabilen Kontakten. Integration geschieht durch neue Freundschaften. Verlusterfahrungen sind sehr einschneidend, v.a. wenn sie die Familie betreffen (neue Freunde finden sich leichter).
  • Zur Diskussion: Sind Integrationsklassen kontraproduktiv? Zumindest funktionierte die Integration bei Kindern in „normalen“ Schulen verhältnismäßig schnell
  • Fehlende Sicherheit beeinträchtigt das Wohlbefinden der Kinder, v.a. bei Unsicherheit wegen ihres Aufenthaltsstatus‘ – Der Status des Wartens und Verharrens. Es bräuchte mehr Transparenz in Bezug auf die Verfahren.
  • In der Dimension „Gesundheitliche, soziale und materielle Versorgung“ sorgen vor allem Todesangst-Erinnerungen und Alpträume sowie verletzende und traumatische Erfahrungen für Stress. Auch vor Ort in Deutschland hält die Angst an: Angst vor der Polizei, Angst vor Abschiebung, Sorge um die Eltern oder zurückgebliebene Verwandte.
  • Eindrückliche Erlebnisse schildern Kindern häufig rund ums Essen und Kochen. Selbst entscheiden zu können, was man essen möchte, wird als wichtiger Bestandteil eines Autonomie-Gefühls wahrgenommen.


Die Studie formuliert daraus ableitend Handlungsempfehlungen für Politik, Lobbyarbeit und Fachpraxis:
1. Das Wohlbefinden von Kindern bei allen politischen Entscheidungen als handlungsleitend setzen.
2. Koordinierte und an den Bedürfnissen von Kindern orientierte Netzwerke der Versorgung und Teilhabesicherung etablieren und unterstützen.
3. Dem Sicherheits- und Schutzbedürfnis von Kindern Rechnung tragen.
4. Zusammenhalt von Familien gewährleisten.
5. Geflüchteten Familien im Sinne der gesellschaftlichen Teilhabe Zugang zu inklusivem Wohnen ermöglichen.
6. Teilhabemöglichkeiten schaffen und Kinder aus Passivität befreien von Anfang an. (v.a. durch außerschulische Bildung)
7. Bildungszugänge beim Ankommen sichern.
8. Psychosoziale und gesundheitliche Versorgung fördern.
9. Pilotprojekte übertragen.
10. Partizipative Forschung fördern.

Zu den guten Beispielen zählen die Selbstorganisation „Jugendliche ohne Grenzen“, Sprachcamps für neu angekommene Kinder wie in Aachen oder Osnabrück, frühe niedrigschwellige Freizeitangebote wie bei „FreiZeit für Flüchtlingskinder“ oder Patenschaftsprogramme für geflüchtete Kinder wie „Schlüsselmenschen“ in Freiburg.

Die Studie kann hier heruntergeladen werden.

Bettina Pereira vom Sozialreferat München (Amt für Wohnen und Migration) stellte die Situation von Kindern in Münchner Flüchtlingsunterkünften vor. Sie haben wenig Kontakt zu potenziellen Role Models. Zu Konflikten kommt es u.a., wenn zuvor unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) sich an das Alleinleben gewöhnt haben, es dann aber zum Familiennachzug kommt. Zudem fallen sie dann häufig aus der Kinder- und Jugendhilfe heraus. Die Schwierigkeiten in den Unterkünften gehen v.a. auf die fehlende Autonomie zurück: nicht selber kochen zu können, in Hallen untergebracht zu sein, die in Einheiten mit (wegen Brandschutz) nur 1,60m hohen Trennwänden unterteilt sind lässt praktisch keinen Raum für Privatsphäre. Viele Frauen trauten sich in diesem Raum nicht einmal ihr Kopftuch abzunehmen. Das Nicht-ankommen-können und die Abhängigkeit verlängern sich durch diese Bedingungen. Mit Stand Ende März 2016 waren 9.100 Menschen in Flüchtlingsunterkünften in München untergebracht. Nach dem Königsteiner Schlüssel nimmt Menschen 1,26% aller in Deutschland ankommenden Menschen auf.

Schwierig sei es auch, auf besondere Bedürfnisse einzugehen, die den Menschen laut §6 des Asylbewerberleistungsgesetzes über Sonderleistungen zustehen. Es braucht immer jemanden, der den Bedarf erkennt und einen Antrag bis zuletzt durchfechten kann, z.B. Windeln für ein schon größeres Kind, das wegen des Verlusts seiner Mutter in der Gemeinschaftsunterkunft zum Bettnässer wird.
Konfliktfördernd kann auch die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen aus verschiedenen Herkunftsländern wirken. Die meisten Flüchtlinge in München kommen aus (in dieser Reihenfolge): Afghanistan, Syrien, Nigeria, Irak, Pakistan, Somalia, Eritrea, Senegal, Iran, Mali. Jedoch haben die Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, Somalia und Iran mehr Rechte, z.B. auf einen Integrationskurs bereits während der Asylantrag läuft. Das verstärkt das Ungerechtigkeitsempfinden der Geflüchteten.

Zu den Herausforderungen zählen weiterhin:

  • Traumatisierte haben keinen Blick für die eigenen Bedürfnisse und die ihrer Kinder
  • Verschobene Rollen: Kinder sind oft schneller integriert, z.B. durch Schulbesuch. Sie erledigen strukturerhaltende Aufgaben in der Familie (einkaufen, Waschen, Geld verdienen)
  • Kinder erhalten kaum Unterstützung beim Lernen
  • Fehlendes Gefühl von Selbstwirksamkeit, Scham (oft auch für die eigenen Eltern), Armut
  • Wohnumfeld: kein Rückzugsort, Lärm, kein Schutz vor gefährdenden Faktoren, keine abgeschlossenen Sanitärräume, kein kindersicheres Umfeld, keine Privatsphäre
  • Diskriminierung: Ausschluss von Integrationsleistung, Isolation, fehlende Bildungshilfen


In ihrem beeindruckenden Erfahrungsbericht erzählte Suli Kurban, wie sie 1998 als Elfjährige mit ihrer Mutter und ihrem Bruder als Angehörige einer unterdrückten Minderheit in China nach München kam, seither ihren Weg mit vielen Höhen und Tiefen meisterte und nun als gefragte Filmerin in ihrer geliebten neuen Heimatstadt studiert.
Hier geht es zu einem Interview mit Suli Kurban im BR.

Vertiefend behandelten sechs Workshops mit Fall-Vignetten unterschiedliche Situation von Geflüchteten:
1. Geflüchtete nach der Jugendhilfe
2. begleitete Kinder und Familien in GU/Erstaufnahme
3. Mädchen über 18 Jahre
4. Unbegleitet minderjähriges Mädchen
5. Unbegleitet minderjähriger Junge
6. Familie in einer GU

Im Fazit arbeiteten die Veranstalter mit einem Wortspiel, das die Situation gut zusammenfasst:
Geflüchtete wollen nicht nur ankommen, sondern auch weiterkommen und etwas zurückgeben.
Zum Gelingen dessen sollten die Kinder- und Jugendhilfe und alle gesellschaftlichen Akteure die Rahmenbedingungen schaffen.

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