Wie interkulturelle Gärten zur Integration beitragen

Unter dem Titel „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) im interkulturellen Kontext. Anwendungsmöglichkeiten der BNE bei der Arbeit mit geflüchteten Menschen in Interkulturellen Gärten“ hat Alice Wichtmann an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt ihre Masterarbeit abgeschlossen.

Foto*: ANNA LINDE Gemeinschaftsgarten Leipzig

Von Tina Teucher

Interkulturelle Gärten können vielfältige gesellschaftliche Funktionen übernehmen. „Sie sind Orte der Begegnung, des Austauschs, der Erholung und zivilgesellschaftlichen Engagements. Vor allem seit dem Beginn der sogenannten „Flüchtlingskrise“ rücken diese Projekte verstärkt in die (öffentliche) Aufmerksamkeit, denn sie ermöglichen auf einzigartige Weise das Wachsen sozialer, kultureller und ökologischer Vielfalt und fördern so auch die Integration neuangekommener Mitbürger*innen“, schreibt Alice Wichtmann in ihrer sehr lesenswerten Masterarbeit. An ihrem Studienort Eichstätt initiierte sie 2015 selbst ein Projekt mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im universitätseigenen Garten.

Für die Untersuchungen ihrer Arbeit stand ein Leipziger Gartenprojekt Modell, das urbane multifunktionale Agrikultur betreibt und das 2017 einen Interkulturellen Garten ins Leben rief. Die Autorin bezieht sich in ihren Ausführungen auch auf Projekte der Arbeitsgemeinschaft für Natur- und Umweltbildung (ANU) zur Umweltbildung mit Geflüchteten, sowie Ergebnisse der bundesweiten ANU Studie „Umweltbildung mit geflüchteten Menschen – Erhebung zu Ist-Stand und Qualifikationsbedarf“ vom April mit 205 Teilnehmer*innen.

Im theoretischen Teil der Arbeit erläutert Alice Wichtmann die didaktischen Prinzipien der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE): „(1) System- und Problemlöseorientierung, (2) Verständigungs- und Werteorientierung, (3) Kooperationsorientierung, (4) Situations-, Handlungs- und Partizipationsorientierung, (5) Visionsorientierung, (6) Selbstorganisation und (7) Ganzheitlichkeit.“ (S. 77) Im Weiteren beschreibt die Autorin die Geschichte der Interkulturellen Gärten. 1996 wurde in Deutschland der erste Interkulturelle Garten in Göttingen gegründet (1998 der Verein Internationale Gärten Göttingen e.V.). Seit 2003 koordiniert die Stiftung Interkultur der Münchner Forschungsgesellschaft anstiftung & ertomis die Vernetzung von über 280 Interkulturellen Gärten.


Interkulturelle Gärten, nachhaltige Entwicklung und BNE

Die Untersuchung zeigte, dass es bisher noch wenige interkulturelle Gartenprojekte mit explizitem BNE-Bezug gibt. Gleichzeitig eignen sie sich sehr gut für BNE, weil sie die drei Dimensionen nachhaltiger Entwicklung (Ökologie, Ökonomie und Soziales) und kulturelle Aspekte miteinander verbinden. In diesem Zusammenhang nennt die Autorin Schlagworte:
Subsistenzwirtschaft, Biodiversität, Erholungsraum, kulturelle Vielfalt, Boden, globale
Nahrungsmittelproduktion, Konsum, Ökolandbau, Begegnungsstätte, Ernährung und
Stadtklima. (S. 82)

Ökologische Dimension
•    klimaneutraler und biologischer Anbau
•    lokale und saisonale Produktion von Gemüse und somit Reduktion von Emissionen
•    Regulierung des Wasserhaushalts in Städten
•    Klimabeitrag („Kühlfunktion“)
•    Staubfilter
•    Lärmfilter
•    Orte für Biodiversität (z.B. durch Kultivierung alter, samenfester Sorten anstelle von Hybriden)
•    ökologische Nischen in der Stadt

Ökonomische Dimension
•    Alternativökonomien – Tauschwirtschaft (z.B. Saatgut)
•    Erhalt von Gemeingütern
•    Subsistenz, Selbstversorgung
•    kostengünstige Produktion von und nichtmonetärer Zugang zu gesunden Lebensmitteln
•    Abkehr von der Konsumgesellschaft durch Do-it-Yourself, Reparieren und Wiederverwerten gebrauchter Gegenstände

Soziale Dimension

•    Integration/Inklusion
•    lebensfreundliche Orte in Städten
•    soziales Miteinander (Gärtnern, Kochen, Feste feiern etc.)
•    Orte der Begegnung und Vielfalt der Menschen
•    Erfahrung von Selbstwirksamkeit
•    Entschleunigung, Erholungsräume
•    Gesundheit (Verbesserung der Luftqualität, körperliche Betätigung, gesunde und frische Lebensmittel, Lärmschutz etc.)
•    Spiel- und Erlebnisraum
•    Orte des Lehrens und Lernens

Kulturelle Dimension

•    Teilen von (kulturellem, lokalem) Wissen
•    Interkulturelle Begegnungen
•    Fortführen von Traditionen
•    Kennenlernen unterschiedlichen Naturverständnisses
•    Raum für vielfältige kulturelle Ausdrucksformen („Gärtnern als kulturübergreifende Betätigung“)
•    Ausleben unterschiedlicher Schönheitsverständnisse
•    Raum für Konzerte, Feste, Workshops, Theater etc.


Wesentliche Ergebnisse der Studie

Die Untersuchung beschäftigte sich mit den Forschungsfragen:
1. Wie wird BNE in Interkulturellen Gärten aktuell bereits implizit umgesetzt?
2. Sind Interkulturelle Gärten geeignete Lernorte für die Vermittlung von Kompetenzen der BNE?

  • Interkulturelle Gärten verfolgen einen ressourcenorientierten Ansatz, denn „die Gärtner*innen können dort ihre Potenziale und Fähigkeiten ausschöpfen sowie ihr Wissen weitergeben und anwenden. Durch die Produktion von Überschüssen – und damit der Möglichkeit, eine Kultur des Schenkens und der Gegenseitigkeit zu kultivieren – werden zudem Anschlüsse an die Mehrheitsgesellschaft möglich.“ (S. 12)
  • „Eine Herausforderung der Interkulturellen Gärten besteht dabei darin, in all der Diversität der Menschen, Ideen, Kulturen, Anbaumethoden etc. das Gemeinsame zu entdecken und zu erleben.“ (S. 12)
  • „Gärten können (…) eine wichtige Brückenfunktion übernehmen, da sie mögliche Begegnungsorte für die diverse Stadtgesellschaft darstellen und einen Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrund ermöglichen. (…) Lokales Wissen findet somit in den Gärten eine Plattform und gleichzeitig sind sie Orte, welche die Möglichkeit einer praktischen Anwendung dieses Wissens bieten.“ (S. 13)
  • „Interkulturelle Gärten bieten Menschen mit Migrations- oder Fluchtbiographie oft erstmals die Chance, auch lokales Wissen und Können weiterzugeben und anzuwenden und sind somit weit mehr als Lernorte zur schlichten Weitergabe von gartenbezogenen Inhalten und funktionieren in diesem Zusammenhang auch jenseits von Sprache.“ (S. 13)
  • „Die Fähigkeit zu Kooperation spielt in Interkulturellen Gärten eine übergeordnete Rolle und ist im Hinblick auf verschiedene Aspekte von Relevanz. Denn sowohl in den Gärten selbst als auch bei der Zusammenarbeit mit externen Partnern müssen die Gärtner*innen im Gartenalltag gemeinsam mit anderen planen und handeln können. Sie lernen differente Standpunkte zu erkennen und Kontroversen demokratisch auszutragen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und die Gartenarbeit zu organisieren. Es haben sich in den Gärten bestimmte Organisationsstrukturen wie Vereinssitzungen, Teammeetings, Arbeitsgruppen oder Gartentreffen entwickelt um die Zusammenarbeit in den Gärten zu regeln und zu erleichtern. Interkulturelle Gärten vernetzen sich aktiv mit anderen Initiativen im Viertel und gehen gezielt Kooperationen mit externen Partner*innen ein.“ (S. 50)
  • Defizite in der Umsetzung von BNE in Interkulturellen Gärten: „Zum einen scheint in den befragten Gärten vor allem die Teilhabe von Menschen mit Migrations- oder Fluchtbiographie noch nicht zufriedenstellend zu funktionieren: Sie beteiligen sich noch nicht in dem gleichen Maße an Entscheidungsfindungsprozessen wie die deutschen Mitglieder, sind bei der Organisation der Gärten weniger stark eingebunden und bringen bisher wenig bis gar kein (lokales) Wissen mit in die Gärten. Darüber hinaus kommen hinsichtlich der Umsetzung von BNE in Interkulturellen Gärten auch explizit nachhaltigkeitsrelevante Themen und BNE-Methoden zu kurz. Wissen wird vielmehr informell vermittelt und vernetzendes Lernen – welches angesichts der Komplexität und Verknüpfung gesellschaftlicher Phänomene in Zeiten der Globalisierung zum Verstehen von Systemzusammenhängen führen soll – findet kaum statt.“ (S. 68)
  • Im Ausblick regt die Autorin weitere Forschung an, etwa eine Analyse von Best-Practice-Projekten, wie sie die ANU auf ihrer Website „Umweltbildung mit Flüchtlingen“ auflistet oder die Untersuchung von Anwendungsmöglichkeiten bereits erprobter Partizipationstechniken aus anderen (sozialwissenschaftlichen) Forschungsrichtungen. Für erkenntnisreich hält Alice Wichtmann zudem eine Untersuchung der Lebensrealität geflüchteter Menschen (z.B. bzgl. Zugang zu gesunder Nahrung) sowie Impulse geflüchteter Menschen zum Bildungsmodell BNE, das stark von westlichen Einflüssen und Vorstellungen geprägt sei und dadurch postkolonialistische, rassistische bzw. paternalistische Komponenten aufweisen könne. (S. 80)

 

Methoden und Materialien

Um die aktive Beteiligung Geflüchteter an Entscheidungsprozessen in Interkulturellen Gärten zu erhöhen, beleuchtet die Autorin die Partizipationsmethoden Zukunftswerkstatt, Murmelgruppen, Assoziatives Zeichnen und World Café auf ihre Eignung. (S. 68-75)

Im hinteren Teil listet die Studie eine nützliche Linksammlung: „Online-Material für BNE-Bildungsveranstaltungen“ (S. 78-79)


Zur Studie

Autorin: Alice Wichtmann
Gutachterin: Prof. Dr. Ingrid Hemmer
Fach: Bildung für nachhaltige Entwicklung
Fertigstellung: 08.09.2017

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Foto*:
Interkulturelle Gärten wie der im ANNA LINDE Gemeinschaftsgarten Leipzig machen die Vielfalt von Kultur und Natur zum Erlebnis. Das Projekt „Interkultureller Garten“ wird von September 2016 bis August 2018 durch die Europäische Union mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfond finanziert. Foto: ANNA LINDE Gemeinschaftsgarten Leipzig